Sie lächelt. Trotz allem. Es ist ein Lächeln voller Lebensmut. Eine innere Kraft ist da, die so gar nicht zur Schwäche ihres Körpers passen mag. Matt, mit schwacher Stimme, liegt die 22-Jährige im Bett auf der Station O22 im Würzburger Uniklinikum. Ein gewaltiges Konglomerat aus Zentren und Krankenhäusern, und Menschen zwischen Leben und Tod. Keine 24 Stunden später – ein herrlich milder Vorfrühlingstag – wird Irene Canibano Gonzalez, gut eingepackt, einen ersten Ausflug in die Stadt machen und über die Alte Mainbrücke spazieren. So fühlt sich Leben an! Es ist ein Grenzgang, den die junge Spanierin seit Anfang Dezember in der Würzburger Klinik bewältigt. Tag für Tag, mit Lebensgefahr und gesundheitlichen Tiefen. Und mit Höhen aus Hoffnung und persönlicher Zuwendung. Sie ist es, die der jungen Patientin Halt gibt in einer Achterbahnfahrt mit ungewissem Ausgang. Die Geschichte von Irene Canibano Gonzalez ist mehr als die einer Krebspatientin. Es ist eine Geschichte vom Menschsein und von dem, was wirklich zählt im Leben. Als Au-Pair-Mädchen kommt Irene vor drei Jahren zu einer Familie nach Deutschland. Sie liebt die Sprache, mag die Leute – und bleibt. In Frankfurt beginnt sie eine Lehre als Hotelfachfrau, findet Freunde und eine neue Heimat. Sie tanzt, trainiert im Fitnessstudio. Einem Unwohlsein misst sie über einige Monate keine Bedeutung bei. Erst als ihr das Atmen schwerfällt, geht Irene zum Hausarzt. Der hat nach einer Ultraschalluntersuchung den drastischen Befund: Ein fortgeschrittener Tumor im Nierenbereich, 15 Zentimeter lang. Wenige Tage später, nach einer Computertomografie, die genaue Diagnose: ein Nebennierenkarzinom, eine extrem seltene, sehr aggressive Krebsart. Die europaweiten Spezialisten dafür arbeiten an der Uniklinik in Würzburg. Irene Canibano Gonzalez wird hierher verlegt. „Ich habe an nichts Schlimmes gedacht“, sagt die 22-Jährige. Doch als ihr die Ärzte etwas von Metastasen erzählen, „war das ein Schock“. Nicht nur für sie, auch für ihre Eltern, die ohne Zögern nach Deutschland zu ihrer Tochter fliegen. Sie in dieser Situation allein lassen? „Niemals“, sind sich Maria Gonzalez und Valentin Canibano einig, „wir wollen nah bei Irene sein und bei ihr bleiben. Das hilft ihr und hilft uns.“
Zwölf Stunden lang wird die Spanierin Mitte Dezember operiert. Es ist ein riskanter, schwerer Eingriff, eine maximale Belastung für Patientin und die operierenden Ärzte. Prof. Martin Fassnacht, Experte für das Nebennierenkarzinom, glaubt an eine Heilungschance, „sonst hätten wir die OP nicht gemacht“. Die Ärzte entfernen nicht nur den Tumor, sondern auch einen Teil der Leber. Zweimal muss im Januar nachoperiert werden, die Prognose bleibt schwierig. Mit einer Chemotherapie sollen die Metastasen auf der Lunge bekämpft werden. Noch ist Irenezu schwach dafür. Aber langsam kommt sie zu Kräften, ihre Zuversicht wächst. Tag umTag verbringen die Eltern am Krankenbett, muntern die Tochter auf, lenken sie ab, versuchen zu verstehen – was schwer ist,ohne ein Wort Deutsch zu können. Auch eine bezahlbare Unterkunft braucht das Ehepaar. In seiner Verzweiflung schreibt der 56-jährige Valentin Canibano noch vor Weihnachten eine Nachricht in die Facebook-Gruppe „Spanier in Würzburg“. Charlotte Bartels liest den Hilferuf – und reagiert. Die 25-Jährige studiert im achten Semester Medizin, Spanisch hat sie sich selbst beigebracht. Ihr Lebensgefährte ist Spanier – und unterstützt seine Partnerin bei allem, was in den folgenden Wochen auf sie zukommen wird: Viele Stunden verbringt die Studentin bei Irene im Krankenzimmer, im Gespräch zwischen Ärzten, Eltern und Patientin. Visiten werden aufgezeichnet, sie übersetzt die WhatsApp-Videos.
Charlotte Bartels ist nicht nur Dolmetscherin, sondern wird eine seelische Stütze für die spanische Familie. Mit ihrem Medizinwissen kann sie die Eltern aufklären und beruhigen. Das tut gut und schweißt zusammen. „Das bleibt für immer“, ist Valentin Canibano überzeugt, oder wie man in Spanien sagt: „Das sind Schleifen, die man bindet.“ Sagt’s – und es fließen ein paar Tränen bei Charlotte Bartels und Mutter Maria Gonzalez. Wer über Wochen schicksalhafte Momente teilt, entwickelt eine innige Beziehung. Ja, gibt die Studentin zu, „es geht mir oft nahe“. Aber sie habe sich für Medizin entschieden, um mit Menschen zu arbeiten. DieWochen mit Irene und der Familie Canibano Gonzalez, (...) auf den Stationen, in der Inneren, der Chirurgie, der Intensivstation – daraus, sagt sie, „habe ich mehr gelernt als in allen meinenVorlesungen bisher“. Für die Familie ist sie ein Engel. Die Eltern vertrauen den Ärzten in Würzburg. Und sie glauben an ihre kranke Tochter, an ihre Zukunft: „Irene ist unabhängig, stark, und sie hat ein großes Herz.“ Beide haben zu Hause in Valladolid bei Salamanca alles stehen und liegen lassen. Die 53-jährige Maria arbeitet dort in einem Wohnheim für Behinderte, Vater Valentin als selbstständiger Dekorateur. Ihre ältere Tochter hütet im Moment das Haus. Aber eine bezahlbare Bleibe in Würzburg zu finden, um Irene zu begleiten? Mitte Dezember wächst die Verzweiflung. Den Eltern ist klar: Die Tochter wird ihre Unterstützung noch vieleWochen brauchen. Und so klopft Studentin Charlotte Bartels bei Gabriele Nelkenstock und ihrem Verein „Hilfe im Kampf gegen Krebs“ an. Die Würzburger Spendensammlerin zögert nicht, organisiert und finanziert über ihren Verein eine Wohnung. Mittlerweile wohnen die Eltern bei den Ritaschwestern, bis eine von den zwei Angehörigenwohnungen des Vereins frei wird. So viele gute Geister – Pflegeteam und Ärzte eingeschlossen – umgeben die spanische Familie, dass es die Eltern kaum fassen können: „Es ist ein großes Glück für uns, wie hilfsbereit die Deutschen hier sind.“ Eine Krebsdiagnose, das ist mehr als OP und Chemo. Viele Rädchen müssen ineinander greifen, die Fachabteilungen zusammenarbeiten: Endokrinologie, Chirurgie, Radiologie, Nuklearmedizin, Pathologie, Strahlentherapie – eine echte Teamleistung ist nötig. „Das ist gar nicht zu überschätzen“, findet der Leiter des Schwerpunkts Endokrinologie Martin Fassnacht. Nur in einer Disziplin gut zu sein, reiche in solch einem Fall nicht aus. Und neben medizinischer Höchstleistung braucht es die organisatorische. Und: die menschliche. Vor zwei Jahren hat Gaby Nelkenstock mit ihrem Verein das Projekt „Nähe schenken“ gegründet. Ihr liegt der Ausbau weiterer Angehörigen-Wohnungen am Herzen. „Wir sind uns sicher“, sagt die engagierte Würzburgerin, „dass die Nähe von Angehörigen und Freunden den Heilungsprozess der Patientinnen und Patienten verbessert.“ Der Bedarf sei groß, der Verein führt eine Warteliste für die ersten beiden Wohnungen. Anfragen kommen aus dem In- und Ausland. So wie Irene hätten auch andere Patienten ihre Liebsten gerne täglich bei sich in der Klinik. „Für die Betroffenen ist das ein großes Problem“, sagt Gaby Nelkenstock. Deshalb träumt sie von einem Angehörigenhaus und hofft auf viele Unterstützer. „Das ist meine Vision und mein Ziel.“ Dass die Begleitung durch Eltern oder Freunde den schwerkranken Patienten hilft, davon ist auch Dr. Sven Flemming überzeugt. Seit 2011 ist der Chirurg an der Würzburger Uniklinik im Einsatz, ein Fall wie der von Irene Canibano Gonzalez lässt ihn nicht kalt. Flemming unterstreicht die reibungslose Zusammenarbeit der verschiedenen Fachkliniken innerhalb des Uniklinikums. Und ihm gefällt die Einstellung der jungen Patientin. Studien, so Flemming, hätten längst belegt: Patienten, die positiv an ihre Erkrankung herangehen, haben bessere Heilungschancen. Dass die 22-Jährige von ihren Eltern begleitet wird, sei „extrem wichtig und wertvoll“ – wie überhaupt die seelische Unterstützung, durch Charlotte Bartels, durch Gaby Nelkenstock. Menschen, die sich bis vor kurzem nicht kannten, die sich aufeinander einlassen und nun innig verbunden sind: „Das ist ein Beitrag“, sagt Chirurg Flemming, „den kein Krankenkassenbeitrag abdecken kann.
Die Krebsart kommt selten vor, gilt als besonders bösartig und hat eine hohe Rückfallquote. Das Nebenierenkarzinom ist schwer zu behandeln und zu beherrschen – auch, weil es Ärzten wegen des seltenen Auftretens an Wissen fehlt. „Die Hälfte der Patienten wendet sich nach eigenen Recherchen deshalb direkt an uns“, sagt Experte Prof. Martin Fassnacht, der 2018 mit weiteren Wissenschaftlern eine europäische Leitlinie zur Behandlung des Nebennierenkarzinoms verfasste. Die Uniklinik Würzburg ist führend in der Behandlung der Krebsart, gilt als europaweit bedeutendstes Zentrum und hat bereits 2003 ein zentrales Patientenregister eingerichtet. Jährlich rund 200 Patienten mit Nebennierenkarzinom werden hier stationär und ambulant behandelt, davon ca. 70 Neuaufnahmen. Das ist der größte Teil der 80 bis 110 Fälle, die pro Jahr in Deutschland auftreten. Patienten aus der ganzen Welt, zuletzt aus Australien, wenden sich an die Spezialisten in der Uniklinik. Häufig können Erkrankte in ihrer Heimat behandelt werden – mit den nötigen Informationen angeleitet von den Ärzten aus Würzburg. Im Gegensatz zu vielen anderen Tumorarten erkranken auch junge Erwachsene und Kinder an dem Krebs, der von der Nebennierenrinde aus schnell wächst und in andere Organe streut. Symptome zeigen sich laut Fassnacht in 60 Prozent der Fälle in hormonellen Störungen, z. B. führt die vermehrte Ausschüttung von Cortisol zu Gewichtszunahme und anderen Beschwerden. Knapp jeder dritte Patient hat Rückenoder Bauchschmerzen, jeder zehnte Tumor wird zufällig entdeckt. Das Nebennierenkarzinom wird in der Regel chirurgisch komplett entfernt und der Patient mit Medikamenten oder in fortgeschrittenem Stadium mit einer Chemotherapie weiterbehandelt.
Infos: www.nebennierenkarzinom.de